Landstrom. Das ist erst einmal ein komischer Begriff. Gibt es unterschiedliche Stromarten? Durchaus. Schiffe im Hamburger Hafen, egal ob mit Passagieren oder Fracht, nutzen ihren Schiffsdiesel, um Generatoren für die Stromproduktion in Gang zu halten. Dabei könnte man doch einfach ein Verlängerungskabel vom Kai an Bord werfen. Fertig. Zu kurz gedacht. Die Schiffe aus aller Herren Länder nutzen unterschiedlich Stecker, Spannungen und Frequenzen. Außerdem schwankt der Strombedarf von Schiff zu Schiff. Ein festes Leitungsnetz entlang der Kaimauern wäre nicht flexibel genug und zudem sehr teuer.
Das mittelständische Unternehmen Becker Marine Systems ist auf eine andere Idee gekommen. Power Pacs. Das sind vereinfacht gesagt zwei Container, in denen ein großer Stromgenerator und oben drauf ein Flüssiggas-Tank (LNG) steht. Die Container wiegen zusammen 60 Tonnen, doch die Drahtseile der Containerbrücke heben das Power Pac mühelos in die Luft. Innerhalb weniger Minuten steht das kleine Kraftwerk auf einem Stellplatz am Heck des Containerschiffs. Mitarbeiter befestigen zwei faustdicke Kabel am unteren Container, dann wird der Generator angeworfen und versorgt das Schiff mit sauberem Strom, so lange es im Hamburger Hafen liegt. Der heißt zwei Landstrom, wobei er streng genommen an Bord des Schiffes, also auf Wasser, hergestellt wird.
Deutlich weniger Schadstoffe
„Unser Power Pac ist eine unkomplizierte und effektive Lösung zur Reduzierung der Schadstoffbelastung in Häfen“, sagt Dirk Lehmann, Geschäftsführer von Becker Marine Systems. Das Hamburger Unternehmen hat gemeinsam mit der Reederei Hapag-Lloyd und dem Terminalbetreiber HHLA seit Mai 2018 ein Power Pac im Probebetrieb. Im unteren Container wird das flüssige Gas erwärmt und somit gasförmig. Bei der Verbrennung treibt es einen Stromgenerator an, der eine Leistung von 1,5 Megawatt bereitstellt. Das Gas im Tank (8,2 Tonnen) reicht für bis zu 30 Stunden Betrieb. Die meisten Containerschiffe machen kürzer am Kai fest.
„Die größte Herausforderung war, den 16 Zylinder-Motor so einzubauen, dass er sich beim Anheben des sechs Meter langen Containers nicht durchbiegt“, sagt Lehmann. Im Gegensatz zu Schiffsdiesel ist LNG schwefelfrei und enthält keine Feinstaubpartikel. Der Anteil von Stickoxiden (NOx) liegt beim Power Pac 88 bis 98 Prozent niedriger und der Kohlendioxid-Ausstoß (CO2) wird um 22 Prozent reduziert. Becker Marine Systems investiert zwölf Millionen Euro in die Entwicklung und den Bau von vier Power Pacs. Das Bundesverkehrsministerium fördert das Projekt mit 40 Prozent der Investitionskosten. „Die Luftreinhaltung ist in Häfen in dicht besiedelten Gebieten von großer Bedeutung. Wir fördern deshalb nachhaltige und alternative Antriebe sowie Innovationen wie die LNG Power Pacs“, sagt Enak Ferlemann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Dreckiges Hamburg
Der Hamburger Hafen ist unter Zugzwang. Einerseits ist er ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, andererseits eine Dreckschleuder. Ein Messtest der Zeit Hamburg ergab auf dem Balkon einer Wohnung mit Elbblick 50.000 ultrafeine Partikel pro Kubikzentimeter Atemluft. An der Außenalster lag zur gleichen Zeit die Feinstaubbelastung bei einem Zehntel, 5.000 Partikel pro Kubikzentimeter. Mit einem Umschlag von 8,82 Millionen Containern (TEU) ist Hamburg Deutschlands größter Seehafen. Ein Großteil der Konsumgüter aus asiatischer Produktion, die für deutsche als auch osteuropäische Händler bestimmt sind, landen hier. Kommt die lang geplante Elbvertiefung, werden noch häufiger Schiffe jenseits der Ladekapazität von 20.000 Containern den Hafen anlaufen. Doch im Gegensatz zum Autoverkehr, gibt es im Schiffsverkehr deutlich weniger Umweltvorschriften. Da wird die Vorgabe der International Maritime Organization, das Schiffsdiesel ab 2020 statt 3,5 nur noch 0,5 Prozent Schwefel enthalten darf, bereits als Erfolg gefeiert.
In der wettbewerbsintensiven und durch Übernahmen gekennzeichneten Branche, wollen die Reeder ihre Kraftstoffkosten möglichst gering halten. Darum muss der Druck zu mehr Umweltschutz von den Häfen ausgehen. Wirtschaftssenator Frank Horch hat einen Masterplan für den Hamburger Hafen aufgestellt. Die 10.000 Hafenschiffe der Lotsen, Schlepper, Polizei, Feuerwehr und Hadag-Fähren sollen sukzessive auf Flüssiggas bzw. Brennstoffzellen umgerüstet werden. Terminalbetreiber HHLA rüstet seine automatischen Containertransporter (AGV) auf elektrischen Antrieb um. Alle Kaianlagen für Container, Stück- und Massengut mit Kabeln für Landstrom auszustatten, ist bei der ungleichmäßigen und zeitweisen Nutzung als auch der Größe der Hafenanlage von 7.200 Hektar ein unrealistischer Plan. Die mobilen, flexiblen Power Pacs sind da klar im Vorteil.
Erste Fahrverbote für Autos
Immer mehr Autofahrer blicken kritisch auf die grauen Rauchsäulen aus den Schiffsschloten. Auf zwei Straßen gelten in Hamburg seit Anfang Mai 2018 Fahrverbote für Fahrer von Dieselfahrzeugen ohne Abgasnorm 6. Sie müssen Umwege in Kauf nehmen und fahren längere Strecken. Der Umwelt ist damit nicht geholfen. Die Verantwortlichen im Hafen fürchten vergleichbare gesetzliche Auflagen. Die Diskussion will man unter anderem mit den Power Pacs umgehen. So rechnet Dirk Lehmann bei der Präsentation vor, wie viel Schadstoff und damit Autokilometer seine Kraftwerke einsparen. Die Reduktion bei Schwefeloxid betrage 23.555.000 km Fahrleistung bei einer Leistung von 1,35 Megawatt innerhalb von 40 Stunden Liegezeit. Dem entgegen stehen Aufwände für Produktion und Transport des Flüssiggases. Erdgas muss auf -162 Grad gebracht werden, bevor es flüssig wird. Dieser Schritt zehrt schätzungsweise 15 bis 25 Prozent des Energiegehalts auf. Doch am Verflüssigen führt kein Weg vorbei, nur so sinkt das Volumen des Gases auf ein sechshundertstel. Damit rechnen sich lange Transportwege. Das LNG für die Power Pacs stammt ironischerweise aus Rotterdam, Hamburgs größtem Hafen-Mitbewerber. Es gibt Pläne für ein LNG-Terminal an der Unterelbe in Brunsbüttel. Mit steigendem LNG-Bedarf würde sich dieses erste Terminal in Deutschland lohnen.
Vorreiter Kalifornien
Becker Marine System füllt die Tanks im Gefahrgutlager des Hamburger Hafens mit LNG auf, bevor sie zum Power Pac am Terminal gebracht werden. Anthony J. Firmin, Schifffahrtsvorstand bei Hapag-Lloyd lässt beim Gespräch vor Ort durchblicken, er ließe die Power Pacs lieber an Land stehen: „Für uns ist das ein großer logistischer Aufwand als auch eine Kostenfrage, die hintere Stellfläche und alle Plätze darunter frei zu lassen.“ Doch aufgrund der fahrenden Containerbrücken kann das Power Pac nicht an Land stehen.
Bislang wehren sich viele Reedereien gegen den teureren Landstrom. Schiffsdiesel ist günstiger. Ein Umdenken funktioniert nur über Gesetze oder wirtschaftliche Anreize. So gewährt der Hamburger Hafen einen Rabatt von bis zu 5.000 Euro pro Containerschiff. Die beiden kalifornischen Häfen Long Beach und Los Angeles gehen den anderen Weg. Bereits seit 2014 gilt die Vorgabe, dass mindestens 50 Prozent der Schiffe einer Reederei Landstrom nehmen müssen. Der Anteil liegt aktuell bei 70 Prozent und steigt bis 2020 auf 80 Prozent. Mit diesem regulatorischen Druck hat Hapag-Lloyd 41 seiner 225 Schiffe so umgerüstet, dass sie Landstrom während der Liegezeiten in Kalifornien nutzen können.
Die technische Umrüstung kostet die Reederei bis zu 600.000 Euro pro Schiff. Darum hat sich Becker Marine Systems bei Steckern, Spannung (6,6 Kilovolt) und Frequenz (60 Hertz) an den US-Vorgaben orientiert. Das Problem ist, dass Containerschiffe, Fähren und Kreuzfahrtschiffe unterschiedliche Techniken für die Stromversorgung nutzen. Das macht den Umstieg auf ein einheitliches Landstrom-System so schwierig. In Hamburg hat Becker Marine Systems mit der „Hummel“ bereits ein schwimmendes Kraftwerk realisiert. Darauf wird ebenfalls mit Flüssiggas Strom erzeugt. Der Lastkahn soll neben Kreuzfahrtschiffen in der Hafencity festmachen. Doch aktuell scheitere das an logistischen Hürden, so Dirk Lehmann. Dafür gibt es am Kreuzfahrterminal in Altona eine feste Landstromanlage. Die versorgt bislang nur die Aida Sol bei ihren Besuchen in der Hansestadt. Das sind immerhin 22 in diesem Jahr. Doch insgesamt werden 2018 im Hamburger Hafen 220 Kreuzfahrtschiffe erwartet. Ein neuer Rekord – leider auch bei den Emissionen. Das Leiden der hafennahen Bewohner hat also noch lange kein Ende.