Kia EV 9: Der sanfte Riese

Kia EV 9

Dieses Auto hat zwei Gesichter. Viel zu groß vs. passt alles problemlos rein. Reisekomfort vs. Aerodynamik einer Schrankwand. Es gibt viele Gründe den EV 9 abzulehnen, aber mindestens genauso viele ihn fahren zu wollen. Es kommt auf die eigene Lebenssituation an.

Für mich ist er nichts. Ich wohne mitten in der Großstadt. Bin auf die öffentliche Ladeinfrastruktur angewiesen und parke am Straßenrand. Oft geschieht das quer zur Fahrbahn. Dann ragt entweder das Auto auf die Fahrbahn oder auf den Fußweg. Bei einem 5,01 m langen SUV ist es ein Glücksspiel die passende Parklücke zu finden. Wer aber einen Stellplatz am Haus, eine Einfahrt, eine breite und hohe Garage sowie eine Wallbox sein Eigen nennt, dürfte mit diesem E-Auto sehr glücklich werden.

Bei 5,01 m Länge steht man mit dem EV 9 gern mal in der Fahrbahn oder blockiert den Fußweg

Mein Testfahrzeug kommt in der Ausstattungsvariante Baseline mit Allradantrieb. Die Farbe nennt der Hersteller Iceberg Green Metallic. Das Grün eines Eisbergs kann ich nicht erkennen, egal wie das Licht auf die Karosserie fällt. Aber egal. Den Kia EV 9 gibt es als Sechs- oder Siebensitzer. Bei mir besteht die zweite Sitzreihe aus zwei Einzelsitzen (also insgesamt sechs Sitze). Die dritte Sitzreihe bietet Platz für zwei kleinere Menschen. Hier wird es etwas enger, auch wenn 3,10 m Radstand für ordentlich Innenraum sorgen.

Knapp 100 Kilowattstunden

Im Fahrzeuginneren ist es sehr hell, was an den beiden getrennten Glasdächern liegt. Das vordere lässt sich wie ein typisches Schiebedach öffnen. Leider sammelt sich darauf Wasser, wenn es geregnet hat. Beim Öffnen läuft mir eine größere Menge auf die beiden Sitze sowie die Mittelkonsole. Angetrieben wird der SUV von zwei Permanentmagnet-Synchronmaschinen mit 283 kW und 600 Nm Drehmoment. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 200 km/h. Die Batterie fasst 99,8 kWh für eine Reichweite von 505 km bei 21 Zoll Reifen. Mit kleineren Reifen sind es ein paar Kilometer mehr.

  • Kia EV 9 AC laden
  • Kia EV 9 Rücksitze umklappen
  • Kia EV 9
  • Kia EV 9 App

Lädt ordentlich was ein

Wem es durch die beiden Glasdächer zu hell wird, zieht die Sonnenrollos aus Stoff zu. Hinter der zweiten Sitzreihe ist im Kofferaum noch Platz für 333 Liter Gepäck. Klappt man die dritte Sitzreihe um, entstehen 828 Liter Volumen. Beide Sitzreihen lassen sich am Kofferraum stehend per Knopfdruck umlegen, die dritte sogar wieder aufrichten.
Klappt man beide Sitzreihen um, entsteht ein Ladevolumen von 2.393 Litern bis Dachhöhe. Wenn das nicht ausreicht, bietet der vordere Kofferraum noch 90 Liter in der Variante mit Heckantrieb und 52 Liter beim Allrad. Was mir besonders gut gefällt: Die Fronthaube lässt sich mit dem Funkschlüssel öffnen. Das ist praktisch, wenn man an einer AC-Ladesäule lädt. Man muss mit dem Kabel in der Hand nicht erst noch die Fahrertür öffnen und den Seilzug betätigen. Das hatte sowieso immer den Charme eines Notfalls. Beim EV 9 gibt es keinen Seilzug. Auch im Inneren betätigt man einen Knopf und die Haube springt auf.

Mit dem Funkschlüssel kann man auch ausparken. Ist die Parklücke so eng, dass man die Türen nicht weit genug aufbekommt, hält man die gewünschte Fahrtrichtung (vorwärts oder rückwärts) auf dem Schlüssel gedrückt und der EV 9 fährt aus der Parklücke. Sehr praktisch.

Kia EV 9 Funkschlüssel
Mit dem Funkschlüssel nicht nur ausparken, sondern auch die Fronthaube öffnen.

Viele Ablageflächen

Wenn man die enge Großstadt verlassen hat und auf der Autobahn unterwegs ist, weiß man die Größe des EV 9 zu schätzen. Der Wagen ist für alle Insassen äußerst bequem. Es gibt ausreichend Ablageflächen. In der zweiten Sitzreihe zieht man aus der Mittelkonsole der Frontreihe ein großes Staufach auf. Vorn hat man zwei Getränkehalter. Oder man klappt die runden Trennwände ein und erhält so ein durchgehendes Fach. Auf einer Ablagefläche dahinter lädt das Smartphone kabellos per Qi-Standard. USB-C-Anschlüsse für schnelleres Laden sind ebenfalls vorhanden.

Die erhöhte Sitzposition sorgt für gute Sicht auf die Straße. Da bleibt der Blick auch, weil ein Head-up-Display alle wichtigen Fahrinfos anzeigt. Auf langen Fahrten aktiviere ich stets die Massagefunktion im Fahrersitz. Allerdings hat es etwas gedauert, das Logo auf dem Knopf links in der Fahrertür richtig zu deuten. Wenn die Massage dann läuft, einfach den Kopf zurücklehnen. Die Kopfstütze ist im EV 9 überraschend weich. Musik an und genießen. Wobei das Meridian Soundsystem einen sehr unauffälligen Eindruck hinterlässt.

Kia EV 9 Massage
Links unten, was WLAN im Sitz bedeuten könnte, steht für die Massagefunktion.

Bimmeln, tuten und blinken

Die bequeme Fahrt liegt auch an den diversen Assistenten. Einer hält die Spur, ein anderer Abstand und Tempo zum Vorausfahrenden. Die Kamera erkennt Schilder mit Tempolimits, doch kann er mit zeitlichen Ausnahmen (30er Zone) nichts anfangen.
Bis man alles Assistenten und Funktionen am Laufen hat, wie man es möchte, vergeht eine Weile. Ein ausführliches Studium des Menüs ist angebracht. Wer das überspringt, wird vom Gebimmel, Getute und Geblinke im EV 9 nach Fahrtbeginn in den Wahnsinn getrieben. Den Anfang macht der Tempowarner. Der geht bei einem km/h über Limit los. Ein längerer Druck auf das Lautstärkerad am rechten Bedienfeld des Lenkrads sorgt für Ruhe. Sobald man die Hand oben ans Lenkrad legt (12 Uhr), kann die Kamera auf der Lenksäule den Fahrer nicht sehen. Es bimmelt, weil die Aufmerksamkeitsüberwachung gestört ist. Bei den anderen Sachen muss man im Menü suchen und sie dort deaktivieren.
Mir passiert es beim Aussteigen öfters, dass ich vergesse, den Wagen auszuschalten. Auch dann ertönt Gebimmel. Der Ausschalter liegt ein etwas versteckt und nicht sichtbar am unteren Ende eines Stockhebels rechts hinter dem Lenkrad.

Macht manchmal was er will

Beim Fahren wüßte ich gern, in welchem Fahrmodus ich mich bewege. Doch das Fahrer-Display zeigt nichts an. Das liegt daran, ich fahre in “Normal”. Das wird nicht angezeigt, wechselt man zu Sport oder Eco, sieht man den Fahrmodus.
Bei der Routenplanung ist das System machmal etwas übergriffig. Da wird plötzlich eine Route anders berechnet, weil auf der eigentlichen Route irgendwo etwas mehr los ist, was man aber nicht als Stau bezeichnen kann. Da wird spontan ein Ladestopp eingeplant, den man weder benötigt noch will. Abhilfe schafft eine dezidierte Beschäftigung mit dem Menü und der Auswahl entsprechender Menüpunkte.

Aus Versehen falsche Menüleiste erwischt

Als Konstruktionsfehler würde ich die Menüleiste unterhalb des mittleren Bildschirms bezeichnen. Dort sind in weißer Schrift u.a. Home, Map, Search und Media zu sehen. Die Schaltflächen sind in den Kunststoff des Armaturenbretts eingelassen. Wirkt zunächst cool. Die Felder funktionieren auch gut, wenn man drauf drückt. Doch wählt man während der Fahrt etwas auf dem darüber liegenden Touch-Display aus, legt man automatisch seinen Handballen auf der Leiste ab, um mit dem Finger das gewünschte Feld zu treffen (wackelt ja ein wenig beim Fahren). In schöner Regelmäßigkeit löst man dabei mit dem Handballen die Auswahl Map oder Home oder beides aus.

Kia EV 9 Massage
Aktivierte Massagefunktion auf dem Bildschirm, doch bei der Auswahl liegt der Handballen immer auf Home, Map, Search oder Media und aktiviert etwas, was man gerade nicht haben will.

Hoher Verbrauch: 25 kWh

Wenn dann alles so eingestellt ist, wie man es haben will, kann die komfortable Autobahnfahrt beginnen. Doch bei dem Verbrauch reichen die 99,8 kWh nicht so lang, wie erhofft. Die Broschüre nennt einen kombinierten Verbrauch von 22,8 kWh auf 100 km. Bei Autobahnen steht sogar 28,9 kWh mit 21 Zoll-Reifen drin. Da bin ich mit meinen 25 kWh ja sogar sparsam unterwegs.
Der Wagen ist 1,76 m hoch und hat einen cW-Wert von 0,28. Hinzu kommt, dass er mit Fahrer je nach Ausstattungsoptionen zwischen 2.648 und 2.749 kg wiegt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Auswirkung ein Anhänger auf den Verbrauch hat. Der Kia EV 9 wird optional mit einer Anhängerkupplung mit abnehmbarer Kugelstange (718 €) oder einer elektrisch ausklappbaren Variante (2.183 €) angeboten. Meine Allrad-Version dürfte bis zu 2,5 Tonnen ziehen.

Kia EV 9
Größe benötigt Energie: 25 kWh auf 100 km

Hohe Ladeleistung von 212 kW

Aber sehen wir das Gute: Ladestopps sind kurz. Die 800 Volt Batterie lädt mit bis zu 210 kW. Dann dauert ein Ladestopp von 10 bis 80 Prozent 24 Minuten. Ich habe bei meinen Ladestopps 212 kW für ein paar Minuten gesehen. Bei EON, Aral Pulse und Fastned hat das Schnellladen mit dem EV 9 problemlos geklappt. Meist ging es so schnell, dass es sich zeitlich nicht mal gelohnt hat, die beiden Vordersitze in den Relax-Position mit Beinauflage zu bringen.
Laden in der Stadt, wo man zumeist AC-Lader findet, dauert dagegen lange. Die Ladeleistung liegt bei 10,5 kW. Eine Option für 22 kW beim Wechselstrom bietet Kia nicht an. Bei einer so großen Batterie wäre das aber eine extrem praktische Option, denn in vielen Städten ist die Ladezeit begrenzt und Ladekartenanbieter berechnen Blockiergebühren.

Vorkonditionierung wird angezeigt

Was noch gut ist: Die Vorkonditionierung fürs Schnellladen wird angezeigt. Dabei bringt die Batterieheizung die Zellen rechtzeitig vor einem Ladestopp auf eine Wohlfühltemperatur zwischen 25 und 30 Grad Celsius. Diese Funktion beiten die meisten E-Autohersteller an. Doch muss man denen blind glauben, dass die Funktion aktiv ist. Es gibt keinerlei optische Rückmeldung im Bildschirm, wann geheizt wird. Das macht Kia besser. Sobald die Batterieheizung anspringt, sieht man im Fahrerbildschirm eine Heizsymbol in der Batterie-Balkenanzeige.

Kia EV 9 Batterieheizung
Eine aktive Vorkonditionierung der Batterie wird im Ladebalken angezeigt.

Knapp 400 statt 505 km Reichweite

Etwas enttäuschend ist die Reichweitenanzeige. Meine Fahrzeugversion soll 505 km Reichweite haben. Voll geladen, also auf 100 Prozent, zeigt der EV 9 mir eine Reichweite von 393 km an. Man weiß, dass der WLTP-Wert nichts mit der Realität zu tun hat. Aber rund 20 Prozent weniger bei frühsommerlichen Temperaturen und Autobahnfahrten die nicht über Tempo 150 km/h hinausgingen, ist schon enttäuschend.
Praktisch ist dagegen die Energieabgabe. Der Kia EV 9 bietet eine V2L-Funktion. Mit passendem Adapter im Ladeanschluss bekommt man eine klassische Haushaltssteckdose für den Elektrogrill, das Werkzeug oder den E-Bike-Akku.

Toter Winkel im Blick

Was kostet der EV 9? Die Baseline liegt bei 76.490,00 Euro. Bei mir kommen für das Comfort-Paket 1.490 Euro und das Drive Wise Paket 1.590 Euro hinzu. Somit liegt der Gesamtpreis bei 79.570 Euro.
Aus meiner Sicht sind die 1.590 Euro für das Drive Wise Paket gut angelegt. Es umfasst den Auspark-Kollisionsvermeidungsassistent, das Head-up-Display, die Rundumsichtkamera und den aktiven Totwinkelassitenten mit Monitoranzeige.
Letzteres ist das Kamerabild unterhalb der Außenspiegel, also der tote Winkel. Genau der Bereich, den man beim rechts Abbiegen in der Stadt schlecht einsehen kann. Das gilt insbesondere bei einem so großen Auto wie dem Kia EV 9. Mit dem Kamerabild im Fahrerdisplay übersieht man keinen Fußgänger oder Rad-/Rollerfahrer, der noch in letzter Sekunde angeschossen kommt. Auf der Autobahn gibt das Bild ein sicheres Gefühl beim Spurwechsel für einen Überholvorgang.

Fazit

Wie bei so vielen Dingen im Leben: Es kommt drauf an … An und für sich ist der Kia EV 9 ein stimmiges Elektroauto. Wenn man in die Tiefen des Menüs vorgedrungen ist und alles nach seinen eigenen Wünschen eingestellt hat, dann bringt jede Fahrt Spaß. Der Wagen ist komfortabel und geräumig. Die Ladepausen sind kurz. Was will man mehr von einem E-Auto?

Allerdings ist der Wagen für viele Verkehrs- und Wohnsituationen zu groß. Aber sämtliche Autos werden immer größer. Weder Mini, Panda, Smart oder Polo haben noch ihre ursprüngliche Größe. Der Trend wir noch von den chinesischen Autoherstellern verstärkt. Dort steht die Modellnummer 9 für ein MPV. Früher hätte man Van gesagt, doch das Akronym steht für Multi Purpose Vehicle. Ja, der EV 9 erfüllt viele Zwecke: Einkauf und Transport, Fahrt in den Urlaub oder mal eben die Kinder abholen.

Nur am Ionity-Lader wirkte der Kia EV 9 nicht zu groß – wenn zwei elektrische Actros von Mercedes-Benz neben Dir stehen.
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Dirk Kunde

Elektroautos, Brennstoffzellen, stationäre Speicherbatterien, V2G, Ladeinfrastruktur, autonomes Fahren – die spannendsten Entwicklungen passieren im Bereich Mobilität. Darum geht es in meinen Artikeln und Videos. Als Journalist bin ich stets auf der Suche nach neuen Ideen für Mobilität von Morgen.

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